Der Chefredakteur des Handelsblattes, Gabor Steingart, ist es wert, von Zeit zu Zeit zitiert zu werden. Heute schreibt er in seinem „MorningBriefing“ über die Wirtschaftskonjunktur, die Wachstummeldungen der Unternehmen und die Reaktion der Börsen.

In seinem morgendlichen Newsletter fasst er die Berichte und Artikel zusammen, die an dem Tag in seinem Blatt erscheinen werden. Wie an den letzten Tagen auch, ist heute wieder einmal die Wirtschaftssituation im Fokus. Steingart beschreibt dabei das Paradox, dass Wirtschaftsforscher in ihren Konjunkturberichten von Abschwung berichten und Börsenkurse sinken, während Unternehmen gleichzeitig Wachstum vermelden.

Diese unterschiedliche Wahrnehmung in den verschiedenen Lagern lässt sich gut mit der „Leiter der Schlussfolgerungen“ erklären, die ich bereits letzten Monat kurz erwähnt hatte.

Steingart fasst das sehr schön in zwei Sätzen zusammen:

Der Abschwung, von dem alle derzeit reden, ist bisher nur eine Erwartung, aber keine Realität. Richtig ist aber auch: Wenn sich die Erwartungen gegen die Realität verbünden, werden sie irgendwann wahr.

Das Modell aus der Organisationsentwicklung beschreibt, wie Menschen aus den beobachtbaren Daten und Erfahrungen ihrer Umwelt eine Untermenge von Daten auswählen. Diesen Daten werden Bedeutungen aufgrund des eigenen kulturellen und persönlichen Hintergrundes beigefügt, die dann zur Entwicklung von Annahmen führen. Gestützt auf die Annahmen werden in der Folge Schlussfolgerungen gezogen, die zur Überzeugung des Betrachters führen: „So und nicht anders sieht die Welt aus!“

Auf der Basis dieser Überzeugungen findet dann persönliches Handeln statt. Wenn sich im Kopfe eines jeden Menschen solche Bilder bilden, dann sorgen reflektive Schleifen dafür, dass Umwelt nur noch im Kontext der bereits vorhandenen Überzeugungen wahrgenommen wird. Fertig sind die Sprichwort gewordenen Schubladen, in denen Situationen und Personen einsortiert werden.

Mit dieser Kenntnis ausgestattet, verwundert es nicht mehr, warum zwei Personen ein und denselben Sachverhalt, z.B. einen Streit, völlig anders wieder geben. Verstanden sind auf einmal die Probleme der Polizei, nach einem Unfall die Zeugenaussagen richtig zu deuten: Was ist beobachteter Fakt, was ist hinzugefügte Überzeugung?

Und es wird klar, warum Analysten, Börsianer und Firmenlenker die Wirtschaftssituation völlig unterschiedlich bewerten. Problematisch ist nur der zweite Teil von Steingarts Zitat. Wenn aufgrund von Überzeugungen und Schlussfolgerungen ein Handeln einsetzt, das zu einer Realität führt, die vorher nur Befürchtung aber noch nicht wahr war.